Timing von Musikern

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Peter Ostry
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Peter Ostry »

Geheimagent hat geschrieben: 06 Feb 2024 - 11:37 Mal zu oben gemachter Aussage in Prozent. Das hängt vom Tempo ab. Habe ich ein Song von 60BPM und der weicht in Prozent genauso viel ab wie einer mit 120BPM, dann fällt das schon erheblich mehr beim langsamen Tempo auf, als bei dem schnelleren.
Da hast du Recht, das muss ich überarbeiten. Ein wenig möchte ich aber schon an menschliches Verhalten anpassen und werde eine Kurve dazwischen schalten, die große Variationen erst bei sehr langsamen Tempi erlaubt.
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Saxer
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Saxer »

Ich habe schon immer relativ viel "jazziges" Zeug programmiert und mich mit dem Timing rumgeschlagen.
Bei melodischen Swing-Laid-Back Sachen sind ja oft ganze Phrasen gefühlt völlig frei vom Timing der Comping-Instrumente und trotzdem groovts, gerade bei guten Sängern und Solisten. So was auf Midi-Timing umzusetzen ist eigentlich nur mit freiem Einspielen möglich, um danach dann hakelige Noten zu korrigieren. Auch nach Dekaden bleibt das immer Try&Error bis es klingt.

Innerhalb von Grooves (Drums, Bass etc) ändert sich eine "richtige" Quantisierung je nach Situation. Beim Swing kann man ja in Logic gut mit den Swing-Quantisierungen rumspielen. Das funktioniert ganz gut bei Swing-Cymbals (Ding-Dinge-Ding...), ändert sich aber komplett bei Akzenten und Fills. Und natürlich ist es Tempo-abhängig.

zB eine 1/8 Swing-E Quantisierung funktioniert (je nach Stil und Song) bei Tempo 130 ganz gut. Die Offbeats sind da ein bisschen später als das dritte Achteltriolen-Achtel. Kommt eine triolische Snare-Figur dazu, muss man diese auf Triolen quantisieren. Fängt man an, das wieder zu "humanizen", klingt die "lockere" Triole ziemlich natürlich, der Groove groovt aber nicht mehr, da muss es also tighter sein.
Kommen jetzt Akzente dazu, zB eine um ein Achtel vorgezogene Eins, funktioniert keine der Quantisierungen mehr, so ein Akzent klingt "swing-triolisch" viel zu spät und schleppend, der muss also früher. Soll der Drummer den Akzent mit einem Fill vorbereiten (wie bei BigBand üblich), muss der Fill so zusammen schrumpfen, dass der "zu frühe" Akzent schlüssig als Ende des Fills rauskommt. Das sind dann aber keine "Abweichungen" vom Timing, das soll ja so.

Wenn man dann mit guten Drummern zusammen spielt und sieht, wie organisch das passiert, merkt man, dass dem mit den ganzen Mini-Parametern nicht beizukommen ist. Das ist wie Frequenzspektren und Timing messen um rauszukriegen, ob jemand einen Oberfränkischen Dialekt hat. Frag halt einen Oberfranken, der sagts dir. Genau so kann man sich den Wolf programmieren und es wird vielleicht ganz ok im Zusammenhang. Aber es wird kein Drummer.
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Peter Ostry
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Peter Ostry »

Swing ist außerhalb meines Konzeptes. Wegen der emotionellen, absichtlichen Verschleppung ordne ich ihn der Interpretation zu. Swing ist ja bereits variiertes Timing und mit Phrasierung verbunden, so weit werde ich gar nicht gehen. Im Moment reden wir über motorisch bedingte Zeitabweichung bei Musikern.

Aber in deinen Betrachtungen sind wieder einige Ideen für mich dabei, wenn auch anders als du vielleicht vor hattest, mitzuteilen.

Diese zufälligen Geschichten sind mein Langzeitprojekt und bestehen aus einer Reihe von Modulen, die irgendwann hoffentlich zusammenwachsen.

Damit wir nicht nicht gegen die Unmöglichkeitswand laufen, möchte ich die Basis zurechtrücken. Es geht nicht um die Simulation von Menschen, sondern um Angleichung bis zu der Stufe, auf der wir künstlichem Timing zugestehen, sich ähnlich dem Menschen zu verhalten. Ich werde nicht so lange dran arbeiten, bis es klingt wie ein Mensch. Dafür müsste man neurale Netzwerke heranziehen. Damit wiederum habe ich (erstens) als "Zuschauer" Erfahrung und bin mir sicher, dass mein Gehirn nicht dafür gemacht ist, außerdem (zweitens) bringt es mir keine Befriedigung, am Ende etwas zu haben, was wie ein Mensch klingt. Das wäre, wie Erdbeermarmelade aus einzelnen Molekülen nachzubauen – das beste zu erwartende Ergebnis ist Erdbeermarmelade.

Für einen neuen Ansatz habe ich den Prozess, einem Raster zu folgen und von diesem abzuweichen, umgekehrt. Der Raster selbst wird mit Beteiligung von Zufälligkeit erzeugt. Die Ereignisse weichen dann nicht vom Raster ab, sondern der Raster folgt den Ereignissen. Das passiert mit einem "Feedback Timer". Bei jedem Tick wird die Länge des nächsten Ticks berechnet, unter Einfluss des Zufalls und gewisser Parameter. Dieser nächste Tick ist dann wieder der Ausgangswert für den folgenden und so weiter. Die enstehende Drift kann akzeptiert oder gesteuert werden. Es entsteht ein Raster mit Unregelmäßigkeiten, an dem sich später andere Ereignisse wiederum mit Abweichungen orientieren können.

Wenn wir sagen, dass alles von allem abhängig ist und Entwicklungen sowohl logisch aufeinanderfolgen, als auch von Zufällen und von Parallelentwicklungen mit deren eigener Logik, Regeln und Zufällen bestimmt werden, beschreiben wir die Evolution. Die Theorie der Evolution geht davon aus, dass die Welt nicht auf einem komplexen System beruht, das von irgend jemand geschaffen wurde, sondern sich von Anfang an aus sich selbst und mit äußeren Einflüssen entwickelt hat.

Es gibt ein Ina-GRM Plugin mit dem Namen "Evolution", das uns eine Analogie von Evolution und Klangerzeugung vorführt. Während vom User willkürlich gesetzter Zeiten werden Teile des Eingangssignals gesampled und gehalten und ergeben Texturen, die man als Verwandtschaft bezeichnen kann. Das Plugin ist kein Granulator, es wird nichts zerhackt oder anders abgespielt. Für jene, die Michael Norris Plugins kennen, hört sich "Evolution" wie eine bereinigte Kombination von Norris’ Drone Maker, Blurring und Averaging an. Mit wenigen Parametern ergeben sich tonal relativ saubere, manipulierbare Texturen, die ich malerisch als "Auszüge der Seele des Originals" beschreiben möchte. Diese Art der tonalen Bearbeitung müsste sich doch auf das Timing übertragen lassen? Weil ich gerne übertreibe, genehmige ich nicht einmal ein Original, sondern erzeuge alles selbst :-)

Noch ein Schmankerl für jene, die an ein umfassendes Prinzip glauben wollen:
Sowohl der Herr mit den Messungen für die in diesem Thread erwähnte Masterarbeit, als auch ich mit empirischen Versuchen, haben herausgefunden, dass bei durchschnittlichem Tempo und perkussiven Klängen eine Zeitabweichung von bis zu 8 ms normal ist. Ich habe noch gefunden, dass drive und laid back nicht egal sind, sondern in einem Verhältnis 3:5 stehen. Also bis zu 3 ms früher und maximal 5 ms später als der Schlag.
3 5 8 klingelt da jemand? Fibonacci?
Dann klingeln auch 3:5 und 5:8 – der Goldene Schnitt.
Beim Goldenen Schnitt ist die kleinere Strecke 38,2 % der Gesamtstrecke. Das ist, wo wir uns hinsetzen sollen, wenn wir im Studio eine gute Akustik haben wollen.
Na eben. Geht ja.
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Geheimagent »

Saxer hat geschrieben: 11 Feb 2024 - 1:01 Ich habe schon immer relativ viel "jazziges" Zeug programmiert und mich mit dem Timing rumgeschlagen.
Bei melodischen Swing-Laid-Back Sachen sind ja oft ganze Phrasen gefühlt völlig frei vom Timing der Comping-Instrumente und trotzdem groovts, gerade bei guten Sängern und Solisten. So was auf Midi-Timing umzusetzen ist eigentlich nur mit freiem Einspielen möglich, um danach dann hakelige Noten zu korrigieren. Auch nach Dekaden bleibt das immer Try&Error bis es klingt.

Innerhalb von Grooves (Drums, Bass etc) ändert sich eine "richtige" Quantisierung je nach Situation. Beim Swing kann man ja in Logic gut mit den Swing-Quantisierungen rumspielen. Das funktioniert ganz gut bei Swing-Cymbals (Ding-Dinge-Ding...), ändert sich aber komplett bei Akzenten und Fills. Und natürlich ist es Tempo-abhängig.

zB eine 1/8 Swing-E Quantisierung funktioniert (je nach Stil und Song) bei Tempo 130 ganz gut. Die Offbeats sind da ein bisschen später als das dritte Achteltriolen-Achtel. Kommt eine triolische Snare-Figur dazu, muss man diese auf Triolen quantisieren. Fängt man an, das wieder zu "humanizen", klingt die "lockere" Triole ziemlich natürlich, der Groove groovt aber nicht mehr, da muss es also tighter sein.
Kommen jetzt Akzente dazu, zB eine um ein Achtel vorgezogene Eins, funktioniert keine der Quantisierungen mehr, so ein Akzent klingt "swing-triolisch" viel zu spät und schleppend, der muss also früher. Soll der Drummer den Akzent mit einem Fill vorbereiten (wie bei BigBand üblich), muss der Fill so zusammen schrumpfen, dass der "zu frühe" Akzent schlüssig als Ende des Fills rauskommt. Das sind dann aber keine "Abweichungen" vom Timing, das soll ja so.

Wenn man dann mit guten Drummern zusammen spielt und sieht, wie organisch das passiert, merkt man, dass dem mit den ganzen Mini-Parametern nicht beizukommen ist. Das ist wie Frequenzspektren und Timing messen um rauszukriegen, ob jemand einen Oberfränkischen Dialekt hat. Frag halt einen Oberfranken, der sagts dir. Genau so kann man sich den Wolf programmieren und es wird vielleicht ganz ok im Zusammenhang. Aber es wird kein Drummer.
Obs nun Jazz oder Rock ist, bei Liveeinspielungen, macht die ganze Band den Takt kürzer oder länger. Das muss natürlich im Rahmen bleiben. Wenn eine Band Taktweise ohne musikalischen Sinn das Timming um 10BPM beschleunigt, dann ist das schon deletantisch. Aber so Schwankungen des Tempos von 1-2BPM der ganzen Band sind wohl Gang und Gebe (gewesen). Bei Anfängern kommt es durch die Aufregung dazu, dass die Band schneller wird.
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Peter Ostry
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Peter Ostry »

Geheimagent hat geschrieben: 15 Feb 2024 - 14:51 Aber so Schwankungen des Tempos von 1-2BPM der ganzen Band sind wohl Gang und Gebe (gewesen).
Ja, das ist ganz normal, wenn man nicht auf einen Click gezwungen wird. So bin ich auf die akzeptierte Drift gekommen. Wenn jemand beschleunigt oder verlangsamt, kommt er nicht ohne weiteres auf das alte Tempo zurück. Er spielt so weiter oder kehrt aus einem musikalischen Grund zurück oder ändert abermals. Das kann innerhalb eines Taktes passieren oder über viel längere Strecken. Wir haben es mit zwei Arten von Timingabweichungen zu tun: Einerseits mit sehr kleinen interpretatorischen oder motorisch bedingten Variationen pro Ereignis und andererseits mit Tempodrift, die langsamer und jeweils nur in eine Richtung stattfindet.

Im Zuge dieser Überlegungen hat mein System eine Schwäche offenbart: Die oben erwähnte früh/spät Ratio (z.B. 3:5) bei Einzelereignissen, die nie ausgewogen sein darf, bevorzugt zwar Tempoänderungen in die Richtung der stärkeren Gewichtung, macht aber die Richtung der Tempodrift ebenfalls zufällig. Das ist unerwünscht, es "wackelt".

Es muss ein Mechanismus eingeführt werden, der Tempodrift über gewisse Strecken nur in eine Richtung erlaubt. So lange, bis das System eindeutig in eine andere Richtung will. Die Drift soll also weniger von Einzelereignissen abhängen, sondern von einem Trend der kleinen Abweichungen.

Dabei ist wiederum die Musikalität zu beachten. Vorziehen oder Zurückhalten von einzelnen Ereignissen ohne genereller Tempoänderung kann musikalische Intepretation sein. Diese zu erlauben, muss man dem Computer mit mindestens einem weiteren Parameter beibringen. Bei meiner derzeitigen Zielsetzung ist die Grenze zwischen Interpretation und Zufall kein Problem, ich werde die einfach vorgeben, man stellt sie ein.

Jetzt habe ich schon zu viele Korrekturen, die nach einem neuen Steuerungskonzept rufen. Das versuche ich aber später, im Moment bin ich in der Welt des heißen Lötkolbens, verkable, arbeite an Instrumenten, verzweifle an Brummschleifen usw.



In dieser Diskussion wird immer wieder die Berechenbarkeit musikalischer Ereignisse angezweifelt. Das stimmt auch, wenn wir damit Kreativität, Interpretation und Improvisation meinen. Aber es gibt Methoden, mit denen man zumindest dem grundsätzlichen musikalischen Verhalten von Menschen nahe kommt, unabhängig von Ethnie und musikalischem Genre. Für einen Tempogenerator sollten die reichen.

Meine Basis war, anfangs ohne es zu wissen, die Singularität nach Maxwell. Einer der Schlüsselsätze steht gleich im ersten Absatz der Wikipedia Seite: "Zwar folgen auf dieselben Anfangsbedingungen immer dieselben Ereignisse, doch ist eine solche Aussage von wenig Wert in einer Welt, in der sich die gleichen Anfangsbedingungen nie wiederholen."
Der zweite Absatz mit dem Titel "Merkmale" fasst zusammen, worüber wir hier diskutieren.

Beeindruckend, dass Maxwell das so schnell und so gut verstanden hat.
Wir reden doch erst seit Anfang Jänner darüber (troll)
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Re: Timing von Musikern

Beitrag von Geheimagent »

@Peter: ganz klassen Beitrag. Menschen möchten unberechbar sein, um einen Mythos zu schaffen. Sind sie aber oft nicht. Politische Führer sind sich darüber im klaren, ansonsten würden sie ihre Macht verlieren (ich möchte damit keine politische Diskussion auslösen). Auch Medien welche Forma auch immer nutzen diese Berechenbarkeit. Natürlich unterliegt so etwas auch wie in der Musik Schwankungen. Alles hat seinen Rhythmus, ob es nun Tag und Nacht ist, oder Sonnenaufgang und Untergang. Beim Jahr haben wir ja auch Schwankungen, die z.B. dieses Jahr mit einem Schaltjahr ausgeglichen werden.
Diese Berechenbarkeit ist ja auch in der Musik nötig, um miteinander Musik machen zu können.
Ich setze mich gerade mit einigen Metallicastücken auseinander. So ist festzustellen, dass einige Breaks von Lars Ulrich hinausgezögert sind , und andere angezogen. Das im gleichen Stück. Die ganze Band sitzt aber ganz schön auf dem Punkt. Der hinausgezögerte Break führt nicht dazu, dass die Band plötzlich langsammer wird, man geht auf das Ursprungstempo ungefähr zurück.
Eine tolle Diskussion Peter. Danke für den Beitrag, und die Anregungen.
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